Richtlinien zum Staatsaufbau der Republik China
für die Periode der militärischen Herrschaft

vom 12. April 1924

aufgehoben durch die
Vorverfassung der Republik China für die Periode der politischen Vormundschaft vom 1. Juni 1931

Art. 1. Die Nationalregierung wird auf dem Grundsatz der "Drei Prinzipien des Volkes" und der "Verfassungslehre von den fünf Gewalten" aufgebaut.

Art. 2. Hauptaufgabe bei der Aufbauarbeit ist die Gestaltung des Lebens des Volkes. Deshalb soll die Regierung für Ernährung, Kleidung, Wohnung und für den Verkehr sorgen. Die Landwirtschaft soll immer mehr erweitert werden, um die Ernährung sicherzustellen. Die Weberei soll weiter ausgebaut werden, um die Kleidung zu beschaffen. Zur Bereitstellung von Volkswohnungen sollen Häuser gebaut und durch Flußregulierungen und Straßenbauten der Verkehr erleichtert werden.

Art. 3. Die Kenntnisse und Fähigkeiten des Volkes sollen entwickelt werden, damit das Volk sein Recht in bezug auf Wahl, Widerruf der Staatsbeamten, Volksbegehren und Volksentscheid ausüben kann.

Art. 4. Die Regierung soll die kleinen und schwachen Völker im Innern Chinas unterstützen, damit diese das Selbstbestimmungsrecht ausüben können. Die Regierung soll den Widerstand gegen Angriffe der ausländischen Mächte organisieren und gleichzeitig soll die Regierung die ungerechten Verträge mit den Ausländern revidieren, um die Gleichberechtigung und Unabhängigkeit Chinas durchzuführen.

Art. 5. Für die Aufbauarbeit gibt es drei Perioden, und zwar
a) die Periode der militärischen Herrschaft,
b) die Periode der politischen Herrschaft,
c) die Periode der verfassungsmäßigen Regierung.

Art. 6. Während der Periode der militärischen Herrschaft soll an alle politischen Einrichtungen dem Militärbefehlshaber unterstellt sein. Mit Hilfe der militärischen Herrschaft sollen alle Schwierigkeiten beseitigt werden. Die Lehren der "Drei Prinzipien das Volkes" und der "Verfassungslehre von den fünf Gewalten" sollen im Volke vorbereitet werden, um es zu bekehren und dadurch die Einigkeit des Volkes zu erzielen.

Art. 7. Wenn in einer Provinz Ruhe herrscht, soll die militärische Herrschaft eingestellt und zum Beginn der Vormundschaft übergegangen werden.

Art. 8. Während der Periode der Vormundschaft soll die Regierung ausgebildete Beamte, die das Staatsexamen bestanden haben, nach den einzelnen Bezirken schicken, um durch sie das Volk in den Bezirken auf die Selbstverwaltung vorzubereiten. Wenn die Volkszählung und eine Landvermessung durchgeführt und die Polizeiverwaltung eingerichtet ist, die Hauptverkehrstraßen nach allen Seiten hin ausgebaut sind und das Volk seine vier Rechte, die Wahl, Volksbegehren, Volksentscheid und Widerruf der Staatsbeamten ausüben und die Volkspflichten erfüllen kann sowie von der revolutionären Lehre überzeugt ist, dann sollen der Vorsteher und die Vertretung im Bezirk gewählt werden. Damit ist die Selbstveraltung im jeweiligen Bezirk vollständig durchgeführt.

Art. 9. Das in einem unter vollständiger Selbstverwaltung stehenden Bezirk wohnende Volk hat selbst das Recht, den Vorsteher und die Beamten direkt zu wählen und auch das Recht, den Widerruf, das Volksbegehren und den Volksentscheid direkt auszuüben.

Art. 10. Vor der Einführung der Selbstverwaltung in einem Bezirk soll erst der Bodenwert des Grundbesitzes abgeschätzt werden. Der Bodenwert des Grundbesitzes kann von dem Besitzer selbst bei der Bezirksregierung angemeldet werden. Der Grundbesitz soll nach seinem Wert besteuert werden. Die Bezirksregierung kann das Grundstück gelegentlich auch in Höhe des Wertes ankaufen. Die Wertsteigerung des Grundbesitzes kommt, infolge der Verhältnisse des politischen Fortschrittes oder der sozialen Verbesserung, der Bezirksregierung und nicht dem Besitzer zugute.

Art. 11. Die Bodenschätze, die Wertsteigerung des Grundbesitzes, die Produkte der Gemeindegrundstücke, der Ertrag aus Wäldern und Flüssen und die Ausnützung der Wasserkraft fallen der Bezirksregierung zu. Diese Gelder sollen zu gemeinnützigen Zwecken, wie zum Bau von Waisen-, Altersversorgung- und Krankenhäusern, zur Unterstützung dar armen Leute un für sonstige Aufgaben für die Gemeinschaft verwendet werden.

Art. 12. Wenn ein Bezirk nicht genügend Kapital hat, um die Naturschätze auszunützen oder die nötigem großen wirtschaftlichen Unternehmungen von Handel und Industrie zu erweitern, so soll fremdes Kapital dazu herangezogen werden. In diesem Fall soll die Zentralregierung an dieser Unternehmung teilhaben. Der Gewinn soll zwischen der Zentralregierung und der Bezirksregierung gleichmäßig geteilt werden.

Art. 13. Jeder Bezirk soll der Zentralregierung im Verhältnis zu seinem Einkommen seine "Matrikularbeiträge" bezahlen. Das Einkommen jedes Bezirks soll in Höhe von nicht weniger als 10 v. H. und auch nicht mehr als 50 v. H. an die Zentralregierung jährlich abgeführt werden. Die Matrikularbeiträge werden durch die Nationalversammlung festgesetzt.

Art. 14. Wenn ein Bezirk Selbstverwaltungsrecht hat, so hat er auch das Recht, einen Vertreter zu wählen und in das Parlament zu entsenden, um an den staatlichen Aufgaben teilzunehmen.

Art. 15 . Alle Amtskandidaten sollen ihr Examen vor dem Reichsprüfungsamt ablegen, gleichgültig, ob sie sich bei der Zentralregierung oder bei der Bezirksregierung im Vorbereitungsdienst oder in fester Stellung befinden. Ihre Ernennung zu Beamten bedarf der Bestätigung durch das Reichsprüfungsamt; dann kann die Anstellung durch die Behörde erfolgen.

Art. 16. Wenn alle Bezirke in einer Provinz zur Einführung der vollständigen Selbstverwaltung übergegangen sind, soll die verfassungsmäßige Regierung beginnen. und dann kann eine Versammlung der Volksvertreter den Präsidenten der Provinzregierung wählen. Die Provinzregierung verwaltet unter der Leitung der Zentralregierung sämtliche Angelegenheiten der Provinz.

Art. 17. Während der Periode dar verfassungsmäßigen Regierung soll die Teilung der Machtbefugnisse zwischen Zentralregierung und Provinzregierung nach dem Prinzip der zweckmäßigen Teilung geschehen. Was das Interesse des gesamten Reiches angeht, soll dem Reich zufallen; was das Interesse der örtlichen Distrikte betrifft, fällt der Provinzregierung zu. Übertriebene Zentralisation oder Dezentralisation sollen vermieden werden.

Art. 18. Der Bezirk ist eine Einheit der Selbstverwaltung. Die Provinz steht als Vermittler zwischen Zentralregierung und Bezirksregierung.

Art. 19. Zu Beginn der Periode der verfassungsmäßigen Regierung soll die Zentralregierung fünf Reichsämter einrichten, und zwar:
1. Reichsvollzugsamt
2. Reichsgesetzgebungsamt,
3. Reichsrechtsamt,
4. Reichsprüfungsamt,
5. Reichsaufsichtsamt.

Art. 20. Das Reichsvollzugsamt hat folgende Ministerien:
1. Ministerium des Innern;
2. Ministerium des Äußern;
3. Kriegsministerium;
4. Ministerium der Finanzen;
5. Ministerium für Landwirtschaft und Bergbau;
6. Ministerium für Handel und Industrie;
7. Ministerium für Volksbildung;
8. Ministerium für Verkehr.

Art. 21. Vor der Verkündung der Verfassung unterstehen die Minister dem Präsidenten der Republik und werden von ihm ernannt und beaufsichtigt.

Art. 22. Der Verfassungsentwurf soll auf Grund der Richtlinien zum Staatsaufbau und entsprechend dem Stand der Vormundschaftsperiode und der Verfassungsperiode vom Reichsgesetzgebungsamt aufgestellt werden, und die Regierung soll gelegentlich in allgemeiner und öffentlicher Bekanntgabe den Entwurf der Verfassung beim Volke vorbereiten, um die Aufnahme zu ermöglichen.

Art. 23. Wenn die Mehrheit der Provinzen reif ist für die Einführung der verfassungsmäßigen Regierung, dann ist die Zeit für die vollständige Selbstverwaltung des ganzen Reiches gekommen und die Nationalversammlung kann einberufen werden, um die Verfassung zu beschließen und zu veröffentlichen.

Art. 24. Nach der Verkündung der Verfassung hat die Nationalversammlung die Herrschaftsgewalt der Zentralregierung. Sie kann die Minister und Beamten der Regierung wählen und entlassen. Sie besitzt auch das Recht des Widerrufs der Reichsbeamten, da Recht des Volksbegehrens und das Recht des Volksentscheids, wenn ein Reichsgesetz in Frage steht.

Art. 25. Die Verkündung der Verfassung ist der Beginn der verfassungsmäßigen Regierung. Eine allgemeine Wahl soll der Verfassung entsprechend im ganzen Reiche stattfinden. Die Zentralregierung legt ihre Amtsgeschäfte innerhalb dreier Monate nach der Wahl nieder und überträgt sie auf die vom Volke neu gewählte Regierung. Damit ist die Vollendung des Staatsaufbaus erreicht.

Die vorstehenden Richtlinien war die, während der sog. "Periode der militärischen Herrschaft" vorläufige Verfassung der Republik China. Die Regierung und die militärische Herrschaft wurde von der Kuo-min-tang geführt und galt zuerst im südlichen China (Provinz Kanton als Kernzelle des sog. "befreiten Gebietes").

Nach den Wirren und der Wiedervereinigung fast ganz Chinas unter der Herrschaft der Kuo-min-tang zwischen 1927 und 1928 waren einige Jahre ziemlich ruhig und dienten der Konsolidierung der Herrschaft der Chinesischen Nationalpartei. Die "Periode der militärischen Herrschaft" wurde im Jahr 1931 mit dem Erlass der Vorverfassung für die "Periode der politischen Vormundschaft" beendet.

Die Richtlinien beschreiben die Verfassungslehre des Sun Yat-sen.

 


Quelle: G. Franz, Staatsverfassungen, Verlag Oldenbourg, München 1950
© 5. Februar 2006 - 12. Februar 2006
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